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Demokratie und Menschenrechte: ZWEI SEITEN DERSELBEN MEDAILLE

Im Rahmen aktueller Debatten zur Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK, allgemein zum Thema Völkerrecht und Menschenrechte, aber auch wenn es um direkte Demokratie, Souveränität oder Selbstbestimmung geht, wird fast von allen Lagern das Gegensätzliche zwischen den Konzepten Demokratie und Menschenrechten betont. Auf der einen Seite herrscht die Angst vor einer Mehrheitsdiktatur, auf der anderen dominieren Ängste vor Fremdherrschaft. Gleichzeitig gebietet die Kunst des kritischen Denkens Dogmen, vorherrschende Denkmuster und Paradigmen zu hinterfragen. Dies gilt nicht nur für die Volkssouveränität oder eine ungebändigte Volks- oder Mehrheitsherrschaft, sondern muss genauso auch für Völkerrecht und Menschenrechte gelten. So sprechen heute viele namhafte Akademiker von einer Gefahr der Trivialisierung und Inflation der Menschenrechte. Internationales Recht wird beispielsweise auch als Haupttreiber innerstaatlicher Überregulierung und von Freiheitsverlust betitelt. Umgekehrt lebt unsere Demokratie grundlegend von individuellen Rechten und von Freiheitsrechten. Sind dies wirklich Gegensätze oder einfach nur Spannungen, die ausgeglichen und moderiert werden müssen und können? Gehören Demokratie und Menschenrechte historisch und ideell sogar zusammen als zwei Seiten derselben Medaille?

Demokratie und Menschenrechte

Demokratie vorgelagert?

 

Der bekannte Schweizer Staatsrechtler Zaccaria Giacometti bezeichnete in seiner vielzitierten Rektoratsrede von 1954 «die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte».[1] Obwohl er vordergründig den individuellen Freiheitsrechten den Vorrang gegenüber der Mehrheitsherrschaft gibt, war für ihn klar, dass die Schweizer Demokratie der bessere Garant für die Menschenrechte darstellte, als andere Modelle: «Die Schweiz bildet ­einen einzig dastehenden Fall von Demokratie, wo das Volk als Gesetzgeber selbst Hüter der Menschenrechte ist, und sie erbringt damit in schönster Weise den lebendigen Beweis der Existenzmöglichkeit eines echten, eines freiheitlichen demokratischen Staates.»

Im politischen Diskurs hingegen herrschen beispielsweise Floskeln vor wie «das Volk hat das letzte Wort» und der vermeintliche Volkswille wird nicht selten als unhinterfragbares politisches Ideal dargestellt. Es gibt jedoch auch akademische Begründungen für einen Vorrang der Demokratie, welche meist der republikanischen Denktradition entspringen. So schreibt etwa Andreas Kley über diese Sichtweise folgendes: «Die direkte Demokratie ist eng mit dem Schutz der Menschenrechte verknüpft: Denn diese auf die Bürger abgestützte Republik garantiert selbst die Menschenrechte.»[2]

Es bleibt jedoch meist offen, was genau unter Demokratie oder direkter Demokratie verstanden wird. Auch der Volksbegriff und somit die Vorstellung von Volkssouveränität bleibt jeweils vage und undeutlich, so dass pauschalisierende Aussagen wohl zu kurz greifen und eine eigentliche Begründung fehlt.

Menschenrechte

Menschenrechte vorgelagert?

 

Umgekehrt wird auch sehr oft von einer Vorlagerung der Menschenrechte gegenüber der Demokratie gesprochen. So argumentierte Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2016 anlässlich des Jubiläums des Schweizer Beitritts zur EMRK, dass «Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie seien».[3] Der klassische Liberalismus setzt ebenfalls die Freiheits-, Grund- und Menschenrechte der Demokratie voraus. Professor René Rhinow hat es einmal so ausgedrückt: «Es gibt im Verfassungsstaat kein Volk über dem Recht.»[4] Das Recht, der Rechtsstaat und somit auch individuelle Rechte stünden über der Volkssouveränität.

Jedoch auch bei dieser Überordnung und Vorlagerung, oder auch Kausalität ist meist nicht eindeutig und klar, was unter den Begriffen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verstanden wird. Auch diese Begriffe fungieren oft leider nur als politische Schlagworte zur Erreichung anderer Ziele. Es scheint so, dass die jeweilige Vorlagerung oder Überordnung des einen Konzepts über das andere wenig Sinn macht, zumal alle diese Begriffe auch als soziale Konzepte verstanden werden müssen.

Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789

 

Artikel 2

«Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.

Artikel 3

«Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht.»

Verbunden, verwoben, gleichursprünglich

 

Die amerikanische Philosophin Seyla Benhabib betitelt die Konzepte Menschenrechte und Selbstregierung als «coeval» und «intertwined» (zeitgleich und verflochten).[5] Gemäss Jürgen Habermas geniessen im Liberalismus die Menschenrechte Vorrang gegenüber der Volkssouveränität, während beim Republikanismus die Volkssouveränität höher gewichtet wird. Urs Marti zufolge hätten Rousseau und Kant hingegen «das Ziel verfolgt, im Begriff der Autonomie die Vereinigung von praktischer Vernunft und souveränem Willen so zu denken, dass sich die Idee der Menschenrechte und das Prinzip der Volkssouveränität wechselseitig interpretieren»: «Habermas begreift Volkssouveränität und Menschenrechte als gleichursprünglich; der Freiheitsanspruch des Einzelnen muss seine Begrenzung im Prinzip der gleichen Freiheit Aller finden, die Bestimmung der Grenzen darf nur in öffentlichen, alle Betroffenen einbeziehenden Diskursen erfolgen.»[6] In gleicher Weise interpretiert die Deutsche Wissenschaftlerin Ingeborg Maus die Konzepte Menschenrechte, Demokratie und Frieden als zusammengehörig und nicht voneinander getrennt verwirklichbar.[7]


Gegründet in der Aufklärung

 

Menschenrechte und volkssouveräne Selbstbestimmung haben offenbar auch einen historisch gemeinsamen Bezugspunkt. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gehören beide Konzepte untrennbar zusammen.

Die beiden Philosophen Menke und Pollmann schreiben über diesen Zusammenhang folgendes:[8] «Zu den hervorstechenden Gemeinsamkeiten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 gehört, dass sie zwei Grundprinzipien, das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip – direkt miteinander verknüpfen (…). Grund- bzw. Menschenrechte und Demokratie gehören demnach zusammen. Dieser Zusammenhang ist nicht nur, wie es in dieser Formulierung scheinen mag, ein instrumenteller; die demokratische Regierungsform ist nicht nur das beste Instrument zur «Versicherung» subjektiver Rechte. Denn die Erklärung dieser unveräusserlichen Rechte versteht sich selbst schon als einen Akt demokratischer Selbstregierung.»

US-Unabhängigkeitserklärung

 

«Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmässige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten»


Charta der Vereinten Nationen 1945

 

Artikel 1 Absatz 2

Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: «freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln»

 

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

 

Artikel 1 Absatz 1

«Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.»

Gleiches kann auch über die UNO-Charta gesagt werden:[9] «Dass aber die Charta [der UNO] sich anschickt, Volkssouveränität in diesem Sinne und Menschenrechte (…) «zu bekräftigen», entspricht wiederum aufs genauste der Logik der Prinzipien Kants wie der Systematik demokratischer Verfassungen, die gleichermassen nicht nur die wechselseitige Optimierung von Menschenrechten und Volkssouveränität voraussetzt, sondern auch Volkssouveränität selbst als ein Menschenrecht definiert.»

 

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[1] «Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». Festrede des Rektors der Universität Zürich Prof. Dr. Zaccaria Giacometti, gehalten an der 121. Stiftungsfeier der Universität Zürich am 29. April 1954. Jahresbericht 1953/54.[2] Aus Kley, Andreas (2015: 37): «Volksinitiativen: Das Parlament als Vermittler zwischen Volk, Regierung und Gerichten?». In: PARLAMENT. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen. Nr. 1 – 18. Jahrgang.

[3] APK-N vom Januar 2016

[4] NZZ, 13.5.2015: Gastkommentar zur Demokratie von René Rhinow: Hat die Mehrheit immer recht?

[5] Benhabib, Seyla (2010): Human Rights, Sovereignty and Democratic Iterations. Session 6, Keynote Lectures: «Human Rights – Global Culture – International Institutions» Our Commun Future, Hannover.

[6] Marti, Urs (2008: 225-226): Studienbuch Politische Philosophie. Zürich: Orell Füssli.

[7] Maus, Ingeborg (2015): Menschenrechte, Demokratie und Frieden: Perspektiven globaler Organisation. Berlin: Suhrkamp.

[8] Menke, Christoph/Pollmann, Arnd (2012): Philosophie der Menschenrechte zur Einführung. Hamburg: Junius.

[9] Maus,  Ingeborg (2015: 142): Menschenrechte, Demokratie und Frieden: Perspektiven globaler Organisation. Berlin: Suhrkamp.



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Kommentare: 1
  • #1

    René D.Gorsatt (Dienstag, 20 Februar 2018 20:04)

    Kant war ein spiritueller Analphabet wie viele Aufklärer aber zur Verfassung der Staaten hat er wichtige Vorarbeit geleistet.