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Eine verpasste Gelegenheit: Das Problem ist nicht die EMRK, sondern der Strassburger Gerichtshof

Bei der Diskussion der Selbstbestimmungsinitiative in den eidgenössischen Räten hat man leider die Gelegenheit verpasst, einen zentralen Aspekt einer vertieften Diskussion zu unterziehen. Einer der Gründe, die den Anstoss zur Initiative gegeben haben, ist die teilweise bedenkliche Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Er hat im Laufe der Zeit live-style-Menschenrechte geschaffen, die mit dem ursprünglichen Ziel der EMRK unvereinbar sind.

Nur ein Beispiel: Nach finnischem Recht schreibt sich der Vorname Axel mit einem kleinen e. Im Verbot von Axl ohne kleines e sieht der EGMR eine Menschenrechtsverletzung! Der Streit um das kleine e als Menschenrecht – eine Denaturierung wirklicher Menschenrechte.

 

Die Initiative wird bekämpft mit dem Argument, die EMRK und damit die Menschenrechte dürften nicht zur Diskussion gestellt werden. Mit dieser oberflächlichen Argumentation wird unter den Tisch gewischt, dass zwischen der EMRK, die wir 1974 ratifiziert haben, und dem, was der EGMR aus der EMRK gemacht hat, eine erhebliche Diskrepanz besteht. Gerade wer, wie der Schreibende, ein überzeugter Anhänger der EMRK ist, sollte sich der Tatsache stellen, dass das Strassburger Richterrecht teilweise weit entfernt ist von dem, was wir 1974 ratifiziert haben. Das und die Strassburger Problematik habe ich eingehend in meiner unten zitierten Schrift dargelegt, worauf generell verwiesen sei.

 

Verantwortlich für das daraus entstandene Malaise ist der EGMR, genauer: es sind die Richter dieses Gerichtshofes. Deshalb sollte man nicht eine Kündigung der EMRK ins Auge fassen, wie dies tendenziell durch die Selbstbestimmungsinitiative angestrebt wir. Anzusetzen ist vielmehr bei der Wahl dieser Richter. Wer sind diese Richter? Wie und nach welchen Kriterien werden sie bestellt? 

Die Frage, wer denn in Strassburg zu Gericht sitzt und wie die Ernennung der Richter erfolgt, findet in der Schweiz praktisch keine Beachtung. Richtersoziologie ist kein Thema. Das ist im Hinblick auf die bedenkliche Entwicklung des EGMR doch etwas befremdlich. Im Jahre 2015 kam es zu einer erheblichen Erneuerung des EGMR – rund ein Drittel der Richter schieden aus und wurden durch neue ersetzt – ein Vorgang, der in der Schweiz keine Beachtung gefunden hat. Dass die Schweizer Delegation im Europarat – alles National- und Ständeräte – für diese Neuwahlen Interesse gezeigt hätten, davon haben wir nichts gehört. Immerhin: Wahlbehörde ist die parlamentarische Versammlung, der diese Schweizer Parlamentarier angehören. Deshalb der wohlmeinende Ratschlag an diese Damen und Herren: Etwas weniger Gänseleber und Gewürztraminer in Strassburg, dafür mehr Engagement bei diesen Richterwahlen.

 

Ein zentrales Problem bei diesen Wahlen ist, dass nach der gegenwärtigen Praxis die Kandidaten für das Richteramt in Fragen der Menschenrechte besonders ausgewiesen sein müssen. Als Folge davon erhalten Menschenrechtspezialisten ein Übergewicht im Gerichtshof auf Kosten derjenigen, die die Realität des Rechtsalltags kennen. Das führt zur Tendenz des EGMR, sich im Namen der Menschenrechte in Rechtsbereiche einzumischen, die dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten sein müssten. Weshalb ein ausgewiesener Zivilrechtler, der nie zu den Menschenrechten publiziert hat, nicht wählbar sein soll, ist unerfindlich. Gerade ein „Aussenstehender“, also einer dessen Denken nicht vom Tunnelblick der Menschenrechtler getrübt ist, könnte dem EGMR sehr gut tun. Hier müssten die Schweizer Parlamentarier in Strassburg Überzeugungsarbeit leisten.

 

In zwei Jahren läuft die neunjährige Amtsdauer der gegenwärtigen Schweizer Richterin in Strassburg aus. Für die Nachfolge hat es die Schweiz in der Hand, einen Dreiervorschlag einzureichen mit ausschliesslich erfahrenen Praktikern, die die Gesetzgebungshoheit der nationalen Parlamente respektieren. Hier sollten sich die Parlamentarier in Bern jetzt schon auf die Hinterbeine stellen, um zu verhindern, dass das Justizdepartement Menschenrechtler ohne Praxisbezug auf die Kandidatenliste nimmt. Jeder qualifizierte Jurist ist heutzutage auch Menschenrechtler. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Kommt er aber schwerpunktmässig aus einer anderen Ecke, ist die Gefahr gebannt, alles nur aus dem einseitigen Gesichtswinkel der Menschenrechte zu durchleuchten.

 

Vielfalt Europas - Die Sprachen Europas
Vielfalt Europas - Die Sprachen Europas

Die Zukunft der EMRK hängt davon ab, dass sich der EGMR, also jeder einzelne Richter, der Kritik an seiner teils überbordenden Rechtsprechung stellt. Das wird ihm leichter fallen, wenn wie dargelegt in das Richtergremium Leute gewählt werden, die nicht die Ambition haben, durch europäisches Richterrecht in undemokratischer Weise eine europäische Einheitsrechtsordnung herzustellen, sondern sich der europäischen Vielfalt bewusst sind. Von Lissabon bis Wladiwostok und von Reykjavik bis Tbilissi sind so viele sozio-ökonomische und normativ-ethische Unterschiede festzustellen, dass sich der EGMR auf den Schutz elementarer Menschenrechte beschränken sollte. Bedenkt man, dass sich heute täglich massive Menschenrechtsverletzungen allein in Russland und auf der in krimineller Verletzung des Völkerrechts okkupierten Krim, seit dem „Putschversuch“ von 2016 auch in der Türkei ereignen, ist der Aufwand, den man in Strassburg mit „live-style-Menschenrechten“ betreibt, nicht nachvollziehbar. Die Lösung der Problematik liegt nach dem Gesagten nicht in einer Kündigung der EMRK, sondern darin, dass bei der Wahl der Strassburger Richter andere Kriterien angewandt werden als bisher.

 

Prof. Dr. Martin Schubarth, ehemaliger Präsident des Bundesgerichtes, Avocat-conseil 

www.martinschubarth.ch

Autor der Schrift: Verfassungsgerichtsbarkeit; Rechtsvergleichend – historisch – politologisch – soziologisch – rechtspolitisch; unter Einbezug der europäischen Gerichtshöfe, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Bern 2017.

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Kommentare: 1
  • #1

    Stefan Heimers (Donnerstag, 16 August 2018 21:35)

    Ist es wirklich eine "bedenkliche Entwicklung", wenn einem Menschen die Freiheit gegeben wird sich Axl statt Axel zu schreiben? Ist das nicht eher eine Befreiung des Bürgers vor überbordender Bürokratie? Und da es kein finnisches Gesetz gibt, das den Buchstaben e im Namen Axel vorschreibt, hat der EMGR auch nicht in nationales Recht eingegriffen, sondern nur die Anwendung von bestehendem Recht (Schutz von Kindern vor lächerlichen oder unsittlichen Namen) auf sinnvolle Fälle eingeschränkt. Und überhaupt, was spricht dagegen, etwas mehr als nur die aller grundlegendsten Rechte zu schützen? Solange der EMGR den Menschen hilft, und nicht schadet, habe ich mit "live-style-Menschenrechten" kein Problem. Hier gibt es noch einen ausführlichen Artikel zu diesem Fall: http://www.digitaljournal.com/article/224706