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Wie das Rahmenabkommen unsere Demokratie tangiert

Die staatspolitischen Strukturen und Prozesse der Schweiz werden mit dem institutionellen Rahmenabkommen stark tangiert. Der Föderalismus, die direkte Demokratie, die Anhörungskultur, die Schweizer Neutralität und die Gewaltenteilung werden durch eine institutionelle Einbindung der Schweiz in die EU-Strukturen verändert. Nachfolgend eine Erörterung der Fakten.

Eine Vielzahl von Studien der Rechts- und Politikwissenschaften belegen, dass in der Vergangenheit die Schweizer Demokratie durch die bisherige EU-Integration verändert wurde. Über «die fortlaufende Integration der Schweiz in das Recht der EU und ihre Auswirkungen auf das schweizerische Rechtssystem und die politische Selbstbestimmung wird demgegenüber kaum sachlich und vorurteilslos diskutiert» (Oesch, 2011). Das politische System der Schweiz wurde in seinen Fundamenten beeinflusst, auch wenn dies von aussen gesehen kaum wahrnehmbar ist (Kux, 2007). Die Gewaltenteilung wurde bereits verändert. Sie wurde so stark beeinflusst, dass sie als laufender Verfassungswandel beschrieben werden kann (Cottier & Liechti, 2007). Es ist davon auszugehen, dass eine politisch-institutionelle Anbindung an die EU mit dem geplanten Rahmenabkommen diese Effekte noch verstärken wird. Vor kurzem haben Schweizer Bundesrichter beispielsweise darauf hingewiesen, dass mit dem Rahmenabkommen «die Rechtsstaatlichkeit der Entscheidungen des Bundesgerichts» durch den Gemischten Ausschuss und Schiedsgericht gefährdet seien (Bundesrichter Andreas Zünd 2019). Diese Fragen der Verfassungsordnung und Gewaltenteilungen müssen diskutiert werden.

Schwächung der Anhörungskultur

(vgl. Koch & Kübler, 2011; Kriesi & Trechsel, 2008; Sciarini et al., 2015)

 

Die für die Schweiz so wichtige und prägende  Anhörungskultur würde mit dem Rahmenabkommen weiter an Bedeutung verlieren. Die sogenannt «Vorparlamentarische Phase» wird weniger wichtig. Der Einbezug von möglichst allen interessierten, relevanten Personen und Gruppen kann durch die Internationalisierung der Abläufe nicht mehr im gleichen Mass abgedeckt werden. Auch hier wird die Verwaltung gegenüber der Partizipation und Zivilgesellschaft

gestärkt. Die zunehmende Wichtigkeit von Brüssel oder Luxemburg verstärkt den Einfluss von grossen und internationalen Interessenorganisationen und Verbänden. Kleine Akteure haben dabei viel weniger Chancen, sich einzubringen. Die dezentralen und agilen Strukturen der Schweiz verlieren an Bedeutung. Das gibt weniger Spielraum für kreative und innovative Lösungen.

Zentralisierung

(vgl. Cottier & Liechti, 2007; Koch & Kübler, 2011; Kux, 2007; Thürer, 2011)

 

Der Bund wurde in Bezug auf die Europäisierung und Internationalisierung einzelner Politikbereiche bereits mit mehr Befugnissen ausgestattet. Die Integration in die EU ist soweit fortgeschritten, dass der Abfluss von Kompetenzen an den Bund stillschweigend hingenommen wird. Auch diverse Föderalismus-Berichte der Kantone haben diesen Trend in der Vergangenheit bestätigt. Eine Nebenfolge davon ist zudem, dass die kleinen Kantone ihr politisches Gewicht verlieren gegenüber den grossen Akteuren. Es ist auch eine Verlagerung von Kompetenzen weg von den Gemeinden und Städten zu erwarten. Auf Ebene der Kantone werden ausserdem die Parlamente zu Gunsten der Exekutiven geschwächt. Die Entwicklung zeichnet den Weg hin zu einem sogenannten «Vollzugs-Föderalismus». Die Kantonsparlamente werden zunehmend ihrer Kompetenzen beraubt. Sie werden zu Befehlsempfängern, zu «staatsnotariellen Ämtern der Ratifizierung». Die Verwaltung wie auch die Regierungen werden dafür mit mehr Einfluss ausgestattet. Schlussendlich werden so der Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip relativiert. Das Rahmenabkommen bedeutet eine weitere Schwächung unserer föderalistischen Tradition.

Schwächung des Parlaments – Stärkung der Exekutiven

(vgl. Cottier & Liechti, 2007; Koch & Kübler, 2011; Sciarini, Fischer, & Traber, 2015; Thürer, 2011)

 

Mit dem Rahmenabkommen würden die Exekutiven weiter gestärkt auf Kosten der Parlamente und zu Ungunsten der Zivilgesellschaft. Die sogenannte «Entparlamentarisierung» würde sich drastisch fortsetzen. Die Legislative würde zunehmend entmachtet und die Regierung und Verwaltung mit mehr Handlungsspielraum ausgestattet. Die im Rahmenabkommen vorgesehenen neuen Ausschüsse und Verwaltungsgremien sind Ausdruck dieses Trends. Die Einrichtung eines parlamentarischen und gerichtlichen Dialoges mit Brüssel wird diese Kompetenzverschiebungen nicht ausgleichen können, sondern womöglich sogar zusätzlich verstärken.

Weniger Partizipation

(vgl. Cottier & Liechti, 2007; Diggelmann, 2005; Lavenex, 2009; Linder & Mueller, 2005)

 

Die direkte Demokratie würde mit dem institutionellen Rahmenabkommen weiter unterhöhlt. Gewisse Volksentscheide finden dann entweder gar nicht mehr statt oder werden nicht umgesetzt. Eine für die Demokratie notwendige, sachliche Diskussion wird verunmöglicht, weil sachfremde Sanktionen oder die Kündigung von weiteren Abkommen drohen. Gewisse Studien kommen zum Schluss, dass bei einer weiteren Formalisierung der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz dies zu einer weiteren Verrechtlichung des Staatshandelns führen würde. Damit einhergehend ist eine Tendenz zu hierarchischem und weniger auf Bürgerpartizipation ausgerichtetem Regierungshandeln zu erwarten.


Referenzen

Cottier, T., & Liechti, R. (2007). Schweizer Spezifika: Direkte Demokratie, Konkordanz, Föderalismus und Neutralität als politische Gestaltungsfaktoren. In F. Breuss, T. Cottier, & P.-C. Müller-Graff (Eds.), Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess (pp. 39–62). Baden-Baden: Nomos.

 

Diggelmann, O. (2005). Der liberale Verfassungsstaat und die Internationalisierung der Politik: Veränderungen von Staat und Demokratie in der Schweiz. Bern: Stämpfli Verlag AG.

 

Koch, P., & Kübler, D. (2011). Aufbruch zu neuen Grenzen? Debatten um den Schweizer Föderalismus. Zeitschrift Für Staats- Und

Europawissenschaften (ZSE), 9(2), 262–280.

 

Kriesi, H., & Trechsel, A. (2008). The Politics of Switzerland: Continuity and Change in a Consensus Democracy. Cambridge: Cambridge University Press.

 

Kux, S. (2007). Die Umsetzung der bilateralen Abkommen in den Kantonen. In F. Breuss, T. Cottier, & P.-C. Müller-Graff (Eds.), Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess (pp. 39–62). Baden-Baden: Nomos.

 

Lavenex, S. (2009). Switzerland’s Flexible Integration in the EU: A Conceptual Frame-work. Swiss Political Science Review, 14(4), 547–575.

 

Linder, W., & Mueller, S. (2005). Schweizerische Demokratie: Institutionen - Prozesse - Perspektiven. Bern: Haupt Verlag.

 

Oesch, M. (2011). Die Europäisierung des schweizerischen Rechts. Bern.

 

Sciarini, P., Fischer, M., & Traber, D. (2015). Political decision-making in Switzerland: The consensus model under pressure. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan.

 

Thürer, D. (2011). Gutachten über mögliche Formen der Umsetzung und Anwendung der Bilateralen Abkommen: Gutachten zuhanden des Schweizerischen Bundesrates. Zürich.

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